Jan-Olav Hinz
Veröffentlichungen
Bewegen – Empfinden . Gestalten
Empfindungsorientiertes Lernen in der Kunstpädagogik; ein Handbuch für LehrerInnen und GruppenleiterInnen
Einführende Texte und 115 in Schulen erprobte Übungen zur Förderung der sinnlichen Wahrnehmung auf 238 Seiten.
Hrsg.: Jan-Olav Hinz
c 2000 by Verlag Christa Limmer,Meezen
ISBN 3-928922-22-x
Wissenschaft und Kunst
c 2001 Hrsg.:Dr. Fritz Mautsch, Köln; Deutsche Gesellschaft für Transaktionsanalyse e.V.
ISBN 3-88190-275-9
Wahrnehmen und Intuition S. 21 ff.
feldenkrais zeit
Heft 7, ZeitRaum, September 2006
Hrsg:: Verein zur Herausgabe der feldenkrais zeit
Verlag, Vertrieb und Abonnementsverwaltung von Loeper Literaturverlag, Karsruhe
ISSN 1615-2971
ISBN 3-86059-637-3
Jan-Olav Hinz, Marianne Schultz-Kleiböhmer
Die innere Fülle finden – Ein Fallbericht aus der Feldenkrais-Praxis S. 29 ff.
Gesundheitsförderung mit der Feldenkrais-Methode
Informationsbroschüre für Patienten, Angehörige, Ärzte und Krankenkassen
c Hrsg.: Feldenkrais-Verband Deutschland e.V.
April 2007, 2. Auflage
Einleitung, Jan-Olav Hinz und Martina Bruseberg S. 4 ff.
Psychosomatische Störungen S.21f
Rehabilitation von schweren Schädel-Hirn-Verletzungen und Schlaganfallpatienten S.26
Zahnärzteblatt Schleswig-Holstein
Sonderausgabe, Fortbildungsprogramm der Zahnärztekammer Schleswig-Holstein, 2. Halbjahr 2008
Gesundheitsförderung in der zahnärztlichen Praxis mit der Feldenkrais-Methode S.11
Vollständige Texte von Jan-Olav Hinz
Aus dem Empfinden formen - Körperempfinden in der bildenden Kunst
Jan-Olav Hinz
Aus dem Empfinden formen – Körperempfinden in der bildenden Kunst
Mit der Moderne wird der dreidimensionale Raum in den Bildern geöffnet. Die Zeit und damit die Bewegung wird Thema in der bildenden Kunst.
Nach den Entdeckungen Einsteins ist jede Beobachtung relativ. Jede Festlegung ist nur auf den Zeit- und Standpunkt des einen Beobachters hin gültig. Ein zweiter Beobachter wird später oder von einem anderen Standpunkt aus eine andere Wahrnehmung des selben Gegenstandes haben. Die Relativitätstheorie spiegelt sich auch in der künstlerischen Weltwahrnehmung wieder. Pablo Picasso malt Bilder in denen im Tagesverlauf unterschiedliche Lichtwirkungen der Sonne gleichzeitig wirksam sind. Marcel Duchamp zeigt den „Akt, eine Treppe herab steigend“ als einen Prozess sich überlagernder Bewegungsphasen.
Die Bewegung als innere Bewegung findet sich bei Paul Klee. [1] Nach seinem akademischen Studium der Malerei erkennt Klee in den Zeichnungen die er als Kind fertigte einen ursprünglichen authentischen Ausdruck. Er beginnt seine Kinderzeichnungen systematisch zu untersuchen und sich die Ausdruckskraft dieser Zeichnungen wieder zu erarbeiten.
Er bedient sich dabei folgender Verfahren:
– das Wiederholen der Gesten der früher Blätter, um in der Bewegung die Erinnerung an die kindliche Gedankenwelt wiederzubeleben,
– Er nimmt die Gewohnheit von Kindern auf, die konzeptionell wichtigen Teile – den Kopf oder die Hände – in ihren Dimensionen überzubetonen,
– assoziativ den Bildaufbau von einem Detail zum Nächsten zu entwickeln,
– der Spannung des Empfindens gemäßes variieren des Drucks bei der Linienführung,
– Experimente mit phonetischen Transkriptionen des Kinderlallens,
– „blindes“ Zeichnen, um von der Kontrolle der Hand durch das Auge auf eine direkte motorische Aktivität überzugehen, die von einer ganz unmittelbaren Expressivität ist.
Klee bezeichnet in seinem Tagebuch diese Art der Linienführung als „psychische Improvisation“ und notiert dazu weiter: „Hier an einen Natureindruck nur ganz indirekt gebunden, kann ich dann wieder wagen das zu gestalten, was die Seele gerade belastet. (…) So wird meine reine Persönlichkeit zu Wort kommen, sich in größter Freiheit befreien können.“[2]
Die Zeichnung und Malerei im Spätwerk von Paul Klee erhält ihre Ausdrucksstärke gerade auch durch die sich aus der Geste entwickelnden gegenstandsfreien Elemente.
Die rein sensomotorische, gestische Malerei fand ein Jahrzehnt nach Paul Klee´s Tod ihren großen Protagonisten in Jackson Pollok.
In den 60er Jahren vollzogen Künstler und Künstlerinnen in ihren Werken den Wandel von der Objektästhetik mit ihrem Anschauungsbezug, hin zur Prozessästhetik mit einem Handlungsbezug.[3] Sie thematisieren wie Wahrnehmung, Bewegung, Leib und Bewußstsein beim Rezipieren von Kunstwerken miteinander verwoben sind. Da Perspektive, Raum und Zeitwahrnehmung an den Leib geknüpft sind, wird der Betrachter zum Schöpfer seiner Erfahrung. Das Werk realisiert sich durch die aktive Aneignung des Rezipienten, im Rezipienten selbst. Das Objekt bietet dabei nur eine Anregung, deren Ergebnis, die daraus gewonnene Eigenwahrnehmung, offen ist, da sie sich im wesentlichen aus der Intensität der subjektiven, wahrnehmenden Bewegung ergibt.
Als Beispiel sei hier aus Franz-Erhard Walthers erstem Werksatz „Blindobjekt“ genannt. Eine zylindrische Nesselhülle von 73 cm Duchmesser und 220 cm länge. Das Objekt wird vom Rezipienten übergestülpt. Die Wandungen nehmen die Sicht vollständig und sind luftdurchlässig. Wer sich im „Blindobjekt“ befindet wird in der Orientierung auf Lauschen, Riechen und Tasten verwiesen. Die Wahrnehmung wird verstärkt auf die leibliche Eigenbefindlichkeit gelenkt. Der Erfahrungsverlauf ist bestimmt durch die Person und ihrer momentanen Verfassung.
Die hier angedeuteten künstlerischen Prozesse und Intentionen bilden einen Hintergrund für die empfindungsorientierte Kunstlehre.
Die beschriebene künstlerische Grundfähigkeit ist, sich selbst im Kontakt mit den Gegebenheiten in den ich mich befinde wahrzunehmen. Das Wahrgenommene kann ich zu einem gestaltbaren Objekt reduzieren und präzisieren (Dies kann auch vorbegrifflich und ungegenständlich aus der Geste heraus geschehen.). Das Objekt wird Bestandteil meiner Umgebung. Ich kann es wahrnehmen und mit meinen Intentionen und Vorerfahrungen vergleichen und die Wirkung auf mich reflektieren. Dann verändere ich das Objekt bis es meiner Intention gemäß wirksam auf mich wird. Damit ist die offene Struktur künstlerischen Handelns umrissen.
Was meine ich nun mit dem wirksam werden des Objektes auf mich. Alles was ich wahrnehme verändert von innen her meine Haltung. Das kann eine unmerkliche Veränderung sein oder eine deutliche. Ein leise Knistern erhöht nicht sichtbar meine Aufmerksamkeit zu lauschen. Ein Knall läßt mich auffahren. Das Gehörte verändert meine Körperspannung, die von mir in Bewegung umgesetzt wird. Ein aus dem „Malen nach Musik“ bekannter Vorgang, in dem eine akustische Struktur in eine malerische übersetzt wird.
Genauso kann ich aber auch die Wirkung einer Architektur oder einer Begegnung, malen, singen oder in eine lyrische Form bringen. Entscheidend ist mein Wahrnehmungsvermögen und meine Bewußtheit wie ich mich im Kontakt zur Umwelt befinde.
Auf diesen Sachverhalt verweisen schon die Künstler-Pädagogen der 20er Jahre.Bei Johannes Itten ist das Wahrnehmen und sich Bewegen unweigerlich miteinander verbunden. „Will ich eine Linie erleben, so muß ich die Hand bewegen, der Linie entsprechend, oder ich muss mit meinen Sinnen der Linie folgen, also seelisch bewegt sein. Endlich kann ich eine Linie geistig vorstellen, sehen, dann bin ich geistig bewegt. Dieses sind nun drei unterschiedliche Grade des Bewegtseins. […] Vor mir steht eine Distel. Meine motorischen Nerven empfinden eine zerrissene, sprunghafte Bewegung. Meine Sinne, Tast- und Gesichtssinn, erfassen die scharfe Spitzigkeit ihrer Formbewegung und mein Geist schaut ihr Wesen. Ich erlebe eine Distel.“[4] Diese Erlebnisfähigkeit gilt es für ihn zu fördern. Darum beginnt Itten bei der Ausbildung von DesignerInnen und KünstlerInnen den Unterricht mit Bewegungsübungen. Er möchte das die Studierenden über die Körperwahrnehmung ein Bewusstsein für ihre eigene Gestimmtheit beim künstlerischen Tun entwickeln.
Auch der, von der Musik kommende, Reformpädagoge Heinrich Jacoby[5] hält den Zusammenhang zwischen innerem Spannungserleben und Spannungsausdruck für die Grundlage jeden gestalterischen Handelns.Von dem Sich-selbst-wahrnehmen geht bei ihm die Ausdrucksdifferenzierung aus. Die differenzierte Selbstwahrnehmung sieht er dabei als eine allgemein menschliche Fähigkeit, die wie alle Fähigkeiten der angemessenen Förderung bedürfen, um sich zu entfalten. Er kritisiert das zu frühe und einseitige Einüben von Regeln und Verfahren des Ausdrucks mit Kindern. Bei ihnen werden dadurch die eigenen Impulse sich auszudrücken und in den Kontakt mit anderen zu gehen verunsichert und gehemmt. Er schlägt statt dessen eine nicht an der Kunst, sondern an den Ausdrucksfähigkeiten der Kinder gemessene Förderung vor: „Die Rolle, die Wort, Ton, Linie, Farbe, Körper, Rhythmus in der Erziehung zu spielen vermögen, kann nicht die von Künstlern im landläufigen Sinne sein. Es geht bei all dem um elementare, allgemein menschliche Ausdrucksgebiete, auf denen grundsätzlich jeder zu ähnlichen unmittelbaren uns selbstverständlichen Äußerungen gelangen könnte wie etwa beim Gebrauch der Muttersprache, bei der wir doch auch zuerst an das Ausdrucks- und Verständigungsmittel denken und nicht an Dichtung oder dramatische Rezitation.“[6] Sich ausdrücken zu können beinhaltet bei Jacoby das Erkennen und Einflußnehmenkönnen auf eigene innere Spannungsvorgänge. Sein Ziel ist die Stärkung des Selbstvertrauens durch das Erlebnis des Sich-äußern-Könnens.
Das diese pädagogische Haltung seit den 20iger Jahren nicht zum Allgemeingut wurde bemängelt Hartmut von Hentig[7] noch 1998. Er wiederholt die These, dass Kreativität weniger gefördert werden kann, als dass vermieden werden sollte sie zu verhindern. Von Hentig bietet als positiven Ansatz für die Bildung kreativer Fähigkeiten an, die bewusste Bejahung senso-motorischer und präoperationaler Vorgänge zu fördern, durch die die Kinder einen differenzierten sinnlichen Umgang mit Sachen, Menschen und dem eigenen Körper erlernen. Entsprechend nennt er das Fach an seiner Schule nicht Kunst sondern „Wahrnehmung und Gestaltung“. Darin ist die Voraussetzung für kreatives Handeln, der persönlichen Anlaß mit noch offener Lösung. Ihm sind für die Entwicklung von Kreativität wichtig:
„- die Erfahrung eines Problems, das einem selber zu schaffen macht – noch ohne Lösung, aber mit der berechtigten Erwartung, daß es eine gibt,
– ein ermutigendes Vorbild also,
– der Widerstand der Realität gegen beliebige Einfälle […] und
– ein ermutigendes Echo, eine sachliche, nicht pädagogische Anerkennung.“[8]
Mit Beginn des 20.Jahrhunderts manifestiert sich ein Paradigmawechsel in der bildenden Kunst. Die innerleibliche Resonanz auf die Wahrnehmung äusserer Vorgänge wird in den Begründungskanon künstlerischen Handelns aufgenommen. Dieses subjektive Element wird von pädagogisch interessierten Künstlern früh erkannt. Sie sehen es nicht nur als künstlerische sondern als allgemeinmenschliche Voraussetzung sich zu orientieren und anderen den eigenen Standpunkt mitzuteilen. Die damit verknüpfte Forderung aus den 20iger Jahren, in den musischen Fächern das Selbstvertrauen des empfindenden Menschen zu stärken, bleibt es noch einzulösen.
[1] Jonathan Fineberg, Mit dem Auge des Kindes, Kinderzeichnung und moderne Kunst, Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, 1995 S. 92 ff
[2] Paul Klee, Tagebücher, DuMont, Köln, 1964, Eintrag 842, S. 242 f
[3] Gerhard Graulich, Die leibliche Selbsterfahrung des Rezipienten – ein Thema transmodernen Kunstwollens, Verlag die blaue Eule, Essen, 1989
[4] Itten 1921 zitiert nach Rainer K. Wick, Zwischen Rationalität und Spiritualität – Johannes Ittens Vorkurs im Bauhaus, in: Das frühe Bauhaus und Johannes Itten, 1994
[5] Vergl. Heinrich Jacoby, Jenseits von „Musikalisch“ und „Unmusikalich“, Die Befreiung der schöpferischen Kräfte dargestellt am Beispiel der Musik, Hamburg: Christians Verlag, 1995
[6] a.a.O., S. 12
[7] Hartmut von Hentig, Kreativität – Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff, Carl Hanser Verlag, München/Wien, 1998
[8] a.a.O., S. 73
Wahrnehmen und Intuition
Von Haus aus bin ich Bildhauer. Ein Mensch der mit Materialien, Massen und Formen das zum Ausdruck bringt, wozu ihm seine Worte nicht geeignet scheinen. In diesem Jahr feiere ich mit meiner Frau unseren 5. Hochzeitstag. Ihre Profession ist die Psychtherapie, ihre Methode dieTransaktionsanalyse. Im abentlichen Gespräch offenbart sie mir zuweilen Vorgehensweisen in ihrem Tun. Mein Thema hier wird die profesionelle Weise von Wahrnehmen und Intuition sein und auch inwieweit diese allgemeinmenschliche Fähigkeiten sind, die ich weiterentwickeln kann.
Lassen sie mich mit einem Spaziergang in Rom beginnen. Es ist August. Viele Städter sind ans Meer und in die Berge geströmt. Der Verkehr ist moderat. Zuweilen weht die spielerische Expressivität italienischer Dialoge an mein Ohr. Meine Kleidung ist leicht. Ein warmer Windhauch berührt meine Haut. Ich spaziere sinnlich aufmerksam. Der Weg führt mich an die Piazza della Rotonda zum Pantheon. Mich interessiert, wie der Raum auf mich wirkt. Die Vorhalle bilden 15 Meter hohe Säulen aus Granit, die hoch über mir ein Dach heben. Die Struktur der aufstrebenden Massen, lässt auch mich wach für meine Aufrichtung werden. So vorbereitet, betrete ich den Saal des antiken Tempels. Der Raum ist kreisrund und auf halber Höhe gehen die Wände in die Wölbung einer Halbkugel über. Der Durchmesser und die Höhe des Raumes sind mit 42 Metern identisch. Das einzige Licht fällt durch eine runde Öffnung im Scheitel der Kuppel.
Diese Hülle ist um einen zentralen Punkt gebildet. Der Impuls ihn aufzusuchen wird gestärkt durch den Fußboden, der sich zart zur Mitte senkt, um kurz vor dem Mittelpunkt wieder zu einer sanften Wölbung anzusteigen. Meine Füsse führen mich an diesen Punkt. Die Aufrichtung brachte ich mit. Nun beginne ich mich nach allen Seiten in den Raum zu dehnen, die mich allseits umgebend Hülle zu spüren. Die Raumbildung des Pantheon spiegelt die Interpretation der Welt jener Zeit. Der Mensch ist ganz eingewoben in die irdisch-kosmischen Kräfte. Ihre Aspekte finden ihren Ausdruck in der Vielgestalt des römischen Götterhimmels. In der Architektur nehme ich wahr, wie diese Abformung des Kosmos mich in ihr Zentrum aufnimmt.
Hinaus in die Sonne, zu einem zweiten Versuch.
Die kleine Barock Kirche, Sant´Andrea al Quirinale ist ein Werk Berninis. Die Grundstruktur ist ein Oval, auf dessen kurzer Achse der Eingang und ihm gegenüber der Chor mit Altar liegen. Das Oval ist um zwei Zentren auf seiner Längsachse konstruiert. Trete ich im Angesicht des Altars auf den Kreutzungspunkt der beiden Achsen, habe ich das Empfinden, das der Raum meine Schultern und Flanken leicht zu den Seiten zieht. Das Volumen um mich hilft mein Herz zu öffnen. Die Art der Sammlung in diesem Raum ist also von ganz anderer Qualität. Aus der Allumfassenden Integration ist ein Vis-á-vis geworden.
Die Architekturen bestehen aus Massen, Richtungen, Rhythmen, Öffnungen und Begrenzungen. Kein Begriff wird illustriert und dennoch regen sie präzise Empfindungen an, die die Bestimmung der Gebäude fördert. Selbstverständlich verbindet die Architektur äussere Bewegungen mit denen die im inneren des Leibes wahrgenommenen werden.
Die bildende Kunst des Abendlandes bedurfte eines etwas längeren Weges, ehe sie die Bewegung und innerleiblichen Empfindungen bewusst zum Thema
nimmt. Die Aufgabe der bildenden Kunst war, den Menschen in seiner kosmischen Verbundenheit, im Erstreben und Erlangen sich entwickelnder religiöser
und gesellschaftlicher Ideale abzubilden. Anfangs hüllte sie ihn in den Goldgrund ein. Später positionierte sie den Menschen in den perspektivisch konstruierten Raum. Hier konnten sich die Menschen mittels Aug- und Fluchtpunkt als Subjekte einer objektiven Welt gegenüber begreifen. Aber Betrachtende wie Betrachtetes waren durch diese gedankliche wie malerische Konstruktion der Welt auch fixiert. Für das Erfassen von Prozessen und Bewegungen brauchte es die Öffnung des Raums zur vierten Dimension, der Zeit. Diese Öffnung zur Zeit begann im 19. Jahrhundert. Aus dem Vis-á-vis wird ein Tanz. Turner malt das energetische Wallen von Nebel, Dampf, Rauch und Licht. Die Impressionisten verarbeiten Erkenntnisse der Farbpsychologie in ihren Bildern. Die changierenden Stimmungen von Begebenheiten werden von ihnen in den Vordergrund gehoben. Cézanne beginnt den Raum entgültig aufzulösen. Seine Bilder haben entweder mehrere Fluchtpunke, so dass die Betrachdenden räumliche Situationen von mehreren Standpunkten gleichzeitig erleben oder seine Bildkomposition ist auf den gekrümmten Flächen von Kugel, Kegel und Zylinder aufgebaut. Die einzelnen Figuren lösen sich aus räumlicher Fixierung und befinden sich in einer
schwebenden Bewegung. Der Raum verschmilzt mit der Zeit. Die Kunst vermittelt nicht mehr Gewissheiten, sondern Annäherungen, Ahnungen und Bewegungen, die aus sich überlagernden Wahrnehmungen entstehen. Das Werk wird zum Reflektionsmedium über das „Wie“ des Wahrnehmens und sich Ordnens in der Welt.
Der Künstler, die Künstlerin betreiben dabei Selbststudien, die beispielgebend für die Rezipienten sein können. Die Arbeitsweise Jackson Pollock´s kann dies verdeutlichen. In seinen letzten Schaffensjahren begann er auf am Boden ausgebreiteten Leinwänden die Farbe zu schleudern, gießen und tröpfeln. Impulsgebend waren ihm dabei oft Musikstücke. Er überließ sich, den durch die Klänge motivierten, muskulären Erregungen, die ihm zu Gesten und tänzerischen Schritten wurden. Aus Dosen, in seinen Händen, tropfte unablässig Farbe. Die ineinander verschlungenen Spuren seiner Bewegungen ergaben Bilder, die schauend das Nacherleben des dynamischen Vorganges zuließen.
In den Jahren um 1960 vollzogen einige Künstler und Künstlerinnen in ihren Werken einen weiteren Schritt. Die Kunstobjekte sollten nicht mehr Verweis auf die persönliche, künstlerische Erfahrungen sein, sondern vom Rezipienten als Versuchsanordnung für eigene Erfahrungen verstanden und genuzt werden. Als Beispiel sei hier Franz-Erhard Walther angeführt mit zwei Arbeiten aus seinem ersten Werksatz. – „Blindobjekt“ nannte er eine zylindrische Nesselhülle von 73 cm Duchmesser und 220 cm länge. Das Objekt wird vom Rezipienten übergestülpt. Die Wandungen nehmen die Sicht vollständig und sind luftdurchlässig. Wer sich im „Blindobjekt“ befindet wird in der Orientierung auf Lauschen, Riechen und Tasten verwiesen. Die Wahrnehmung wird verstärkt auf die leibliche Eigenbefindlichkeit gelenkt. – „Nähe“, eine Hartfaserplatte im Hochformat ca. 80 cm mal 50 cm, mit Nessel überzogen und oben mit zwei Lederschlaufen versehen. Je eine der Lederschlaufen kann von einer Person über den Kopf gezogen werden, so dass zwei Personen gleichzeitig das Objekt um ihre Hälse tragen. Die kaschierte Hartfaserplatte hängt zwischen den Personen. Das Objekt hebt die soziale Distanz auf und verhindert gleichzeitig den direkten
Körperkontakt. Die Nahsinne sind angesprochen. Das Riechen der anderen Person, die durch die Wandungen des Objekts wahrgenommenen Atembewegungen vielleicht auch das Lauschen auf deren Rhythmus usw.. Walther thematisiert wie Wahrnehmung, Bewegung, Leib und Bewusstsein miteinander verwoben sind. An den Leib sind die Zeit- und Raumwahrnehmungen geknüpft, die sich im Wahrnehmen der eigenen Haltung, Veränderungen im Muskeltonus, in Atem- und Pulsfrequenz spiegeln. Persönliche Gestimmtheiten werden deutlicher oder in ihrern Veränderungen bewußt. Das Werk realisiert sich durch die aktive Aneignung des Rezipienten, im Rezipienten selbst. Das Objekt bietet dabei nur eine Anregung, deren Ergebnis, die daraus gewonnene Eigenwahrnehmung, offen ist, da sie sich im wesentlichen aus der Intensität der subjektiven, wahrnehmenden Bewegung ergibt. Der Betrachter wird zum Schöpfer seiner Erfahrung.
Wenn ich das Kunstwerk als eine Wahrnehmungsstruktur verstehe und mit
ihm individuelle Erfahrungen initiieren möchte, so stellt das an mich
verschiedene Anforderungen.
Zuerst muß ich mich selbst im Kontakt mit den Gegebenheiten, in denen
ich mich befinde wahrnehmen. Welche Haltung nehme ich in meinem sozialen
oder objekthaften Umfeld ein.
Was schafft eine besondere Resonanz in mir, weckt meine Intuition?
Wie kann ich diesen mir wesentlichen Aspekt aus der Fülle der
Wahrnehmungen auf ein erstes Modell für ein gestaltbares Objekt
reduzieren? Ein Modell das auch ungegenständlich aus der Geste heraus
geformt sein kann. Habe ich eine erste Formskizze wird das modellhafte
Objekt Bestandteil meiner Umgebung. Ich muß es aus professioneller
Distanz wiederholt wahrnehmen um es mit meinen Intentionen und
Vorerfahrungen vergleichen zu können, um die Wirkung auf mich zu
reflektieren. Dann verändere ich das Objekt bis es meiner Intention
gemäß wirksam auf mich wird oder ich erkenne Wirkungen an ihm, die mich
veranlassen meine Intention zu verändern.
Was meine ich nun mit dem wirksam werden des Objektes auf mich. Alles
was ich wahrnehme verändert von innen her meine Haltung. Das kann eine
unmerkliche Veränderung sein oder eine deutliche. Ein leise Knistern
erhöht nicht sichtbar meine Aufmerksamkeit zu lauschen. Ein Knall läßt
mich auffahren. Das Gehörte verändert meine Körperspannung, die von mir
in Bewegung umgesetzt wird. Ein aus dem „Malen nach Musik“ bekannter
Vorgang, in dem eine akustische Struktur in eine malerische übersetzt
wird.
Genauso kann ich aber auch die Wirkung einer Architektur oder einer
Begegnung auf meine Stimmung oder Körperspannung empfinden und malen,
singen oder in eine lyrische Form bringen. Entscheidend ist mein
Wahrnehmungsvermögen und meine Bewusstheit wie ich mich im Kontakt zur
Umwelt befinde.
Lassen sie mich das an meiner Arbeit Lächeln von 1995 beschreiben. Mir
wurde beim Meditieren ein aus meinem Inneren sich entwickelnder Zustand
von Lösung und Zentrierung bewusst. Dieser Zustand wurde deutlicher,
wenn ich ihn mit einem sanften Lächeln verband. Mimik und
Körperempfinden waren übereinstimmend. So verharrend lenkte ich meine
Aufmerksamkeit auf verschiedene Aspekte dieses Zustandes.
Wie nehme ich so meine räumliche Ausdehnung wahr?
Wo in meinem Inneren habe ich ein gesteigertes Empfinden von
Anwesenheit?
Wie erlebe ich meinen Kontakt zum Boden, eher lastend oder erfahre ich
den tragenden Impuls leichter Aufrichtung?
Ist der Zustand blockhaft oder transparent?
Aus der wiederholten Untersuchung formuliere ich Anforderungen an den
Gegenstand in ersten Zeichnungen. Fragen nach sinnvollen sinnlichen
Materialwirkungen werden mich in der Folge beschäftigen.
Will ich nicht nur meine Empfindungen ausloten, sondern strebe die
Kommunikation mit anderen durch das Objekt an, bedarf ich auch der
Fähigkeit zur Empathie. Zumindestens brauche ich eine Phantasie in
welcher Situation andere dieses Objekt entdecken und für ihre eigenen
Untersuchungen nutzen werden. Denn die Betrachtenden werden gehend und
stehend auf das Objekt treffen, nicht sitzend. Und sie werden
unterschiedliche Erfahrungen im Umgang mit Kunstwerken und aus dem
Alltag mitbringen.
Will ich mit den Gegenstandswirkungen ein umrissenes Segment von
Erfahrungen ermöglichen, muß der Gegenstand deutlich genug sein um nicht
unbegrenzte Spekulationen zu befördern. In der Formen- und
Materialsprache kann ich mich an Werke und Epochen anlehnen um den
Rezipienten einen größeren Zusammenhang zu erschließen.Im Gestalten
stehe ich also dem Modell gegenüber und mir selbst.Ich bin nicht nur
empfindend, sondern muß auch wissen wie ich empfinde. Sonst besteht die
Wahrscheinlichkeit, dass mein Tun in individueller Selbstbespiegelung
befangen bleibt.Darum ist für eine professionelle Wahrnehmung eine
weitere Reflexionsebene unerlässlich.Ich vergewissere und entwickele
meineWahrnehmung durch die Betrachtung der Gestaltungen von Kolleginnen
und Kollegen.
Nun war die Rede über Wahrnehmungen in Zusammenhang mit der Kunst.
Was ist daran allgemein und was spezifisch an die Profession gebunden?
Es bedarf einer Gegenprobe. Die in dem Buch „Transaktionsanalyse der
Intuition“ zusammengefaßten Aufsätze von Eric Berne liefern dazu
geeignetes Material.
Die Aufsätze stammen aus den Jahren 1949 bis 1962. In ihnen fokusiert
der Psychiater Berne, Wahrnehmungsprozesse bei der Diagnose und die
Ebenen auf denen er mit seinem Gegenüber interagiert. Dabei leiten ihn
die Fragen: Woraus speist sich mein Handeln undVerstehen? und Welche
Anteile davon sind mir bewusst und kann ich ordnen.
Die ersten Aufsätze muten mir wie Skizzen an, in denen er
unterschiedliche Aspekte dieser Fragen analysiert, um diese Skizzen dann
mehr und mehr zu klären und zu verdichten. Die Konzeptionalisierung der
Transaktionsanalyse wird als Gestaltungsprozeß sichtbar.
Zu den Inhalten.
Sein erster Aufsatz sind Reflektionen über „Das Wesen der Intuition“. Er
nennt darin die Intuition, einen „primär unterbewussten“ Prozess, der
dadurch entsteht, dass Sinnes- und andere Eindrücke miteinander und mit
inneren Spannungen verbunden werden, die auf gegenwärtigen Bedürfnissen
und vergangenen Erfahrungen beruhen.
Das intuitiv Wahrgenommene kann nicht angemessen analysiert oder
verbalisiert werden, ohne das der Wahrnehmende seine Sinneseindrücke auf
die bewussten und kognitiv strukturierbaren Anteile verkürzt. Er sollte
daher offen für die in der Formulierung noch nicht berücksichtigten
Aspekte bleiben.
In der Diagnose besteht ein intuitiver Zugang zum Verständnis der
emotionalen Verfassung anderer in der Nachahmung von Mimik, Gestik und
Körperhaltung (Reflexnachahmung).
Durch den Zustand gleichartiger Muskelspannungen stellt sich ein
spezifisches mit ihr verbundenes subjektives Erleben ein. Er verweist
damit auf die meist unbewußte Ebene der Wahrnehmungen aus unseren
Muskeln, Sehnen und Gelenken. Im Aufwachsen ist in ihnen die
Bereitschaft eher offensiv oder defensiv in der Welt zu stehen zum
Muster geworden. Berne vermutet, das die unbewußten intuitiven
Funktionen einen größeren Einfluß auf Realitätsurteile im täglichen
Leben haben. Er empfiehlt aufmerksam für eigene intuitive Fähigkeiten zu
sein und sie zu pflegen.
Drei Jahre später präzesiert Berne in „Über das Wesen der Diagnose“
Aspekte der Wahrnehmung in bezug auf die eher bewußten Anteile der
Intuition. Im profesionellen Kontext folgt ein Berufsanfänger bei seinen
untersuchenden Wahrnehmungen einem vorgegebenen Katalog. Die Teilurteile
kann er direkt verbalisieren und addiert sie zu einer Diagnose. Der
Student baut ein Mosaik zusammen. Ein erfahrener Kliniker nimmt eher
bildhaft im Sinne einer umfassenden Gestalt sein Gegenüber wahr und
beginnt erst dann das z.T. unter der Bewußtseinsschwelle komplex
Empfundene zu versprachlichen. Der Kliniker zerlegt eine Gestalt.
Berne veranschaulicht das mit einer Analogie zur Motorik. „Der Anfänger
tanzt Rumba, indem er sich daran erinnert , daß er diesen Fuß hierhin
und jenen dorthin stellen muß; mit Hilfe dieses additiven Verfahrens
kommt er recht und schlecht zurecht. Nach einer Weile muß er sich nicht
mehr daran erinnern und er tanzt eine fließende gut integrierte Rumba,
ohne darüber nachzudenken.Wenn er gebeten wird zu erklären wie er das
macht, kommt er vorübergehend auf sein altes System zurück.“ (Berne
1991, S. 79)
Die intuitiven Prozesse sind also integrativ im Sinne einer bildlichen
Vorstellung, während die sprachlichen Vorgänge additiv sind. Erst die
Verbindung der intuitiven Wahrnehmung mit ihrer rationalen Einordnung
und Prüfung ergibt die Diagnose.
Noch zwei Gedanken von Berne:
In „Über das Wesen der Kommunikation“ unterscheidet er zwischen der
intendierten und der latenten Information. Intendiert ist das was der
„Sender“ an Information mitteilen möchte,während die oft unbewusste,
lantente Information durch den Klang der Stimme, Versprecher, Mimik und
Gestik dem „Empfänger“ etwas über den Zustand des „Senders“ mitteilt.
Was für ihn Information ist entscheidet der „Empfänger“ mit dem Fokus
den er setzt. Parallen zu dem oben beschriebenen wahrnehmungskompetenten
Rezipienten werden sichtbar.
Im nächsten Aufsatz folgt die Mahnung zur Vorsicht. Durch unsere (früh-)
kindlichen Anpassungsleistungen an das uns umgebende soziale Klima
können wir in unserer Fähigkeit wahrzunehmen und unsere Wahrnehmungen zu
deuten vorgeformt und eingeschränkt sein.
Der Profi also hat Erfahrung die ihm in Fleisch und Blut übergegangen
zur Intuition wird. Er kann die Wahrnehmungen die zu seiner intuitiven
Setzung führen bedingt Kategorisieren und über die Art und Weise seines
Wahrnehmens reflektiern.
Was machen die Laien?
Berne verweist darauf, daß Kinder auf ihre Art eine hohe Kompetenz haben
Situationen zu definieren. Ihr Gespür für Stimmungen und Spannungen
liegt nicht zuletzt in ihrer Fähigkeit äußere Ereignisse danach zu
beurteilen welche innerleiblichen Empfindungen sie in ihnen verursachen.
Doch diese Fähigkeit geht verloren. Sie verblasst weil nicht nach ihr
gefragt wird.
In einem Schulversuch konnte ich diese Frage nach inneren Empfindungen
wiederbeleben.
Mit Kunstlehrern zusammen machte ich Bewegungsübungen aus dem Tanz oder
der Atemlehre zum Gegenstand des Kunstunterrichts. Mit einer Form, mit
Farbe oder einer Linie notierten die Schülerinnen und Schüler ihre
Wahrnehmungen. Danach konnten sie selbstbestimmt sich sprechend der
Erfahrung annähern.Dieser Ansatz war lohnend wurden die Kinder und
Jugentlichen doch in ihrem Selbst- und Empfindungsbewusstsein gestärkt.
Es fiel ihnen leichter über sich und ihre Konflikte zu sprechen und sie
zu lösen. Darin folgte dieser Schulversuch für den Kunstunterricht ein
wenig den Intentionen eines der Großen in der Kunstwelt. War es doch
einem Beuys wichtiger, dass seine Student selbstbestimmt ihr Leben in einem Alltagsberuf meisterten, als das er sich in Adepten spiegelte.
Literatur
Eric Berne, Transaktionsanalyse der Intuition, Hrsg. Heinrich Hagehülsmann, JunvermanVerlag 1991
Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, Bd. 2-4 der Gesamtausgabe, Novalis Verlag 1986
Gerhard Graulich, Die leibliche Selbsterfahrung des Rezipienten – ein Thema transmodernen Kunstwollens, Verlag die blaue Eule 1989
Volker Harlan, Was ist Kunst? – Werkstattgespräche mit Beuys, Urachhaus 1992
Gudrun Hennig, Georg Pelz, Transaktionsanalyse, Herder 1997
Jan-Olav Hinz Hrsg., Bewegen – Empfinden – Gestalten, Christa Limmer Verlag 2000
Daniel Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, Klett-Cotta 1992